Selbstliebe nach Missbrauch - Drei Dinge, die mir halfen mich anzunehmen
- nataschafreisein
- 28. Feb.
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. Mai
Bitte suche dir professionelle Hilfe, falls du glaubst, traumatisiert zu sein und falls du Selbstmordgedanken haben solltest. Dieser Artikel ist kein Ersatz für professionelle Begleitung.
Ich erinnere mich noch daran, wie ich vor ca. 1.5 Jahren eine Zeitschrift im Regal liegen sah mit dem ungefähren Titel “Lebe mit Leichtigkeit”. Damals dachte ich: “Ich hätte gerne diese ‘Probleme’”. Ich fühlte mich kaputt und so weit entfernt von den meines Erachtens einfachen Problemen anderer Menschen. Ich sehnte mich zurück in eine Zeit, in der mir eine solche Zeitschrift ein gutes Gefühl gegeben hatte und meinen Selbstwert hatte stärken können. Stattdessen spürte ich tiefen Selbsthass ,Traurigkeit und unglaublich viel Scham in mir aufbrodeln.
Während fast zwei Jahren Arbeitsunfähigkeit zerfiel mein Selbstwert und ich stand vor einem Scherbenhaufen. Ich erkannte, dass mein Ich aus Überlebenstechniken bestand und ich nie wirklich selbstbewusst gewesen war. Ich erkannte die unzähligen ungesunden Dynamiken in meiner Familie, die mehrere Generationen zurückreichen und die mich schon als Ungeborenes beeinflussten. Ich schälte jede Schicht meines Seins ab wie die Schichten einer Zwiebel und hatte immer wieder neue Erkenntnisse. Doch mit jeder Erkenntnis tauchte nicht mehr Verständnis, sondern anfangs vor allem viel Selbsthass auf. So sollte das doch nicht laufen, oder? Mit Selbst-Erkenntniss sollte der Selbstwert doch steigen, oder nicht?
Emotionale Vernachlässigung auf allen Ebenen, die sich wie ein roter Faden durch meine Kindheit und Jugend zog. Eltern, die mit sich selbst beschäftigt und völlig überfordert waren aufgrund ihrer eigenen Geschichte und ihres jungen Alters. Eine Vernachlässigung, von der ich nichts "ahnte", bis ich im Alter von 35 Jahren begann, über generationenübergreifende Traumata und emotionale Vernachlässigung zu lesen. Wie Schuppen fiel es mir plötzlich von den Augen: Da war eine Wut in mir, die ich jahrzehntelang unterdrücken musste, um die Bindung zu meiner Mutter zu sichern. Da war eine Wut in mir, die in meiner Familie als böse angesehen wurde, die ich gelernt hatte, mit einem Lächeln in mich hineinzustopfen. Und da war unendlich viel Traurigkeit, die ich langsam lernte zu sehen und später dann zu spüren, die sich in meiner Jugend zuerst in eine Depression entwickelt hatte.
Auf dem Weg zur Selbstliebe - und meist beschäftigen wir uns doch mit dem Thema, wenn wir eben nicht mit einer gesunden Portion davon ausgestattet worden sind - glauben wir häufig, dass wir bestimmte Dinge anwenden können, um dann Schritt für Schritt selbstbewusst und strahlend durch die Welt laufen zu können. Social Media hat dazu beigetragen, dass wir glauben, dass der Weg zur Selbstliebe linear ist. Wir sehen strahlende und tanzende Menschen auf Social Media, die erzählen, wie sie es geschafft haben, sich zu lieben und nun glücklich durchs Leben gehen. Mag sein. Doch wo ist der Weg dahin, der eben nie linear ist?
Wenn wir Missbrauch erlebt haben, der unseren Selbstwert zerstört hat, kann der Weg zur Selbstliebe nicht simpel sein, er wird zwangsläufig über einen Pfad aus Geröll führen. Du wirst einen Stock brauchen, um dich mal hoch, mal runter über die rutschigen Steine bewegen zu können. Manchmal wirst du eine Pause brauchen, vielleicht auch mal tagelang an einem Ort Halt machen, die Aussicht genießen oder auch einfach nur schlafen, denn der Weg braucht Kraft. Und manchmal brauchst du ein Pflaster oder einen Verband, weinst, wenn dir der kalte Regen von vorne ins Gesicht peitscht und du kaum etwas siehst und du ausgerutscht bist. Und manchmal hasst du dich für das schleppende Tempo, das du zurücklegst, die Umwege, die du gehen musst, weil du die richtige Abzweigung verpasst hast.
Und genau deshalb finde ich eine realistische Darstellung vom Weg zur Selbsterkenntnis, Selbstakzeptanz, Selbstwertschätzung und Selbstliebe so wichtig. Es geht nicht um das Ziel, sondern um den Weg. Ja ja, hast du vermutlich schon tausendmal gehört. Ich konnte den Spruch früher nicht hören, denn ich wollte ans Ziel, wollte mich toll fühlen, wollte, dass andere sahen, wie toll ich mich fühlte. Doch Moment mal, das war ja dann kein richtiges Selbstvertrauen, oder? Immer wieder wurde ich mit meiner Geschichte konfrontiert, hasste mich selbst dafür und wollte alles hinter mir lassen und strahlen. Ich glaubte, dass ich erst, wenn ich strahlen würde und eine Karriere aufgebaut hätte und einen Freund hatte, sagen durfte: “Ich bin stolz auf mich!”. Ein schöner Beruf hilft uns, unser Selbstvertrauen zu stärken und ist eine wichtige und gesunde Stütze für unser Selbstbild. Doch er sollte nie eine Krücke sein, ohne die wir nicht laufen und uns wert-voll fühlen können. Dasselbe gilt für einen Partner.
Ein starkes Selbstwertgefühl nach Missbrauch oder emotionaler Vernachlässigung aufzubauen, braucht Zeit. Immerhin hast du über Jahre oder Jahrzehnte etwas erlebt, das dich hat glauben lassen, dass du nichts wert bist. Dein Nervensystem war damit beschäftigt, dein Überleben zu sichern. Das kann nicht von heute auf morgen ausradiert werden. Ausradieren können wir das Geschehene sowieso nicht, nur die emotionale Ladung neutralisieren. Bei der Heilung nach Missbrauch geht es für mich vor allem darum, das Geschehene zu sehen und anzunehmen und durch körperorientierte Praktiken, zu spüren, dass du gut genug und liebenswert bist.
“Wie schaffe ich es, mich mehr zu lieben?”
Für jeden Menschen sieht dieser Weg anders aus. Ich teile hier Dinge, die mir geholfen haben. Vielleicht entdeckst du auf deinem Weg andere Hilfen.
Nimm den Druck raus. Statt dir in einem strafenden Ton zu sagen, dass du dich lieben und schämen musst, wenn du es nicht schaffst, dich zu lieben, nimm den Druck raus. Sage dir: “Es ist okay und normal, wenn ich mich nach einem solchen Erlebnis nicht 100%ig annehmen kann. Schritt für Schritt gehe ich den Weg der Selbstakzeptanz”. Denn nach Missbrauch befinden wir uns meistens am untersten Ende des Selbstliebe-Spektrums. Da ist es normal, dass wir innerhalb von ein paar Wochen nicht zur strahlenden Selbstliebe-Queen werden. Und müssen wir das überhaupt?
Selbstmitgefühl. Was unwichtig klingt, war für mich der größte Katalysator zur Selbstakzeptanz. Wie würdest du mit einem Kind oder einen guten Freundin reden, die dasselbe wie du erlebt hat? Genau: voller Mitgefühl. Und genau hier hapert es oft, weil wir die hasserfüllte Stimme des Narzissten oder unserer Eltern in uns aufgenommen haben. Sie ist zu unserer Stimme geworden, dabei sprach unser Ex nur von und über sich, wenn er schlecht über uns und mit uns redete. Er brauchte eine Projektionsfläche für seinen Selbsthass. Beginne mit ein paar netten Sätzen täglich in deinem Tagebuch. Was ist dir gelungen? Umso wichtiger ist Selbstmitgefühl allerdings an deinen “schlechten” Tagen, dann, wenn du am liebsten im Bett bleiben würdest. Finde insbesondere dann ein paar nette Worte für dich. Oder - liebevoller und sanfter Körperkontakt zu uns selbst ist so heilsam und gleichzeitig schwierig nach Missbrauch - umarme dich selbst. Streiche dir über deinen Oberarm, wenn du dich dabei wohlfühlst. Schreibe dir, wenn du magst 'Selbstmitgefühl' auf einen Post-It und klebe ihn auf einen Spiegel. Selbstmitgefühl ist der Schlüssel für Selbstakzeptanz und Selbstliebe nach Trauma.
Grenzen setzen neu lernen. Missbrauch kann auch als chronische Grenzüberschreitung beschrieben werden. Wir erfahren körperlich, seelisch und emotional, dass unsere Grenzen übertreten werden und ignoriert werden, auch wenn wir sie aussprechen. Und das ist nicht unsere Schuld. Oft haben wir schon als Mädchen erlebt, dass wir nicht laut sein durften, sondern mitfühlend und lieb sein mussten. Vielleicht haben wir gesehen, dass unsere Mutter oder andere Frauen sich in unserem Umfeld angepasst und nie ihre Stimme erhoben haben. Vielleicht hast du Grenzen ausgesprochen, Nein gesagt, und erlebt, wie dein Ex deine Grenzen belächelt oder überschritten hat, wie dein Nein plötzlich schwach geworden ist, nicht, weil du schwach bist, sondern, weil den meisten Frauen ihre gesunde Wut (Grenzsetzung) schon als Kind abgesprochen worden ist. Nein zu sagen und zu erleben, dass unser Nein nichts wert ist, macht etwas mit uns. Es führt zu einem Gefühl der Ohnmacht, vielleicht auch stummer Wut, die unbewusst in uns wächst, sich manchmal in der Beziehung aufgebäumt hat in Form von Wutausbrüchen. Zurück bleibt meist eine starke Angst vor Konflikten, vor dem Nein sagen, vor erneuter Grenzüberschreitung, emotional und körperlich. Erkenne an, dass deine Grenzen absichtlich überschritten worden sind und lerne deine Grenzen neu kennen. Beginne bei deinen physischen Grenzen.
Berühre, wenn du magst, deinen Körper und taste mit Druck oder ganz sanft, deine körperlichen Grenzen ab. Sprich dabei laut aus, welchen Körperteil du gerade berührst: “Meine Hand. Mein Körper. Meine Grenze.” Berühre deine Hände, Unterarme, Oberarme, Schultern, Nacken, Brust, Bauch, etc. Vielleicht spürst du am Anfang wenig oder nichts, das ist normal, da wir uns lange von unseren Grenzen und unserem Körper dissoziieren mussten. Falls du Panik, Wut oder Ekel aufsteigen spürst, kann dies ein Zeichen dafür sein, dass eine professionelle Begleitung hilfreich sein könnte. Diese Übung kann dir helfen, die körperlichen Grenzen wieder zu spüren und somit ein Gefühl der Sicherheit für dein Nervensystem wiederherzustellen. Übe diese Übung, falls du merkst, dass sie dir gut tut, ungefähr zwei bis drei Mal pro Woche. Zwinge dich nie und spüre immer in dich hinein, ob du gerade die Kapazität hast, dich zu berühren und Emotionales zu verarbeiten. Denn was häufig geschieht, ist, dass wir als Opfer von Missbrauch beginnen, unsere eigenen Grenzen zu überschreiten. Lerne diese wieder zu spüren und zu respektieren, vor allem im Umgang mit dir selbst. Später dann kannst du üben, im Umgang mit Anderen deine Grenzen zu kommunizieren.
Perfektionismus-Sucht? Ich konnte mich lange nicht annehmen und spüre noch heute Momente in denen es mir schwerfällt, mich anzunehmen. Warum? Weil ich in diesen Momenten extrem hohe Ansprüche an mich selbst stelle. Genau diese verhindern es, dass ich mich in diesen Momenten annehmen kann. Ich spüre manchmal, dass ich in Gruppen ruhig werde, fast schüchtern, nicht flüssig reden kann. Statt liebevoll mit mir umzugehen, wird der innere perfektionistische Kritiker laut. Selbstliebe bedeutet nicht, dass wir immer so sind, wie wir es uns wünschen, sondern, dass wir so wie wir sind uns immer annehmen können. Und auch wenn wir uns manchmal nicht annehmen, auch dass annehmen können.
Langsamkeit, Ruhe und Sanftheit brachten mir am meisten Heilung und waren die größten Katalysatoren für Selbstliebe, die ich zu lange ignoriert hatte, aus Angst, nicht schnell genug zu sein auf dem Weg der Heilung.
“Wenn du schnell sein willst, geh langsam” Chinesisches Sprichwort
Deine Natascha
Foto von Laura Vynck Hyu
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