In 6 Schritten: Langsamkeit und Ruhe aushalten lernen als Schlüssel für deine sanfte Traumaheilung.
- nataschafreisein
- 4. Mai
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 13. Juli
2019 war mein Arbeitshandy voll von Flugpässen. Ich war kaum Zuhause und zog im Februar zwischen zwei Geschäftsreisen um, organisierte am Flughafen London Heathrow per Telefon das Umzugsunternehmen. Alles musste schnell gehen, ich war ständig gestresst. Langsamkeit, Langeweile und Stille gab es in meinem Leben nicht. Es war mein Körper, der mich zum Anhalten zwang.
Was war es, dass mich so antrieb?
Angst. Pure Angst vor Stillstand, Leere, nicht wichtig sein, Versagen. Ohne mir dessen bewusst zu sein, hatte ich damals ständig an etwas Neuem gearbeitet, mich für etwas Neues interessiert. Ich musste leisten, um überleben zu können, weil mein Nervensystem Ruhe nicht mehr kannte.
Missbrauch oder emotionale Vernachlässigung in der Kindheit und eine fehlende stabile Bindung zu den Eltern kann zu einem Getriebensein führen. Kelly McDaniel beschreibt in ihrem Buch Mutterhunger, dass eine fehlende stabile Bindung zur Mutter - auch wenn sie physisch anwesend ist und versucht ihr Bestes zu geben - zu einer Getriebenheit, zur Arbeitssucht und Sportsucht führen kann (McDaniel, p. 114). Dann versuchen wir unbewusst die fehlende Stabilität, den fehlenden Schutz und die fehlende warme Liebe durch Restriktion und Kontrolle zu ersetzen. Sucht, so schreibt sie, ist ein Versuch, Angst und Verzweiflung zu regulieren–Angst, nicht liebenswürdig oder allein zu sein, Angst, die wächst ohne ein fundamentales Gefühl an Sicherheit (McDaniel, 114). Sucht und Suche liegen nicht nur sprachlich nah beieinander.
Ein fehlender Selbstwert und ein dysreguliertes Nervensystem
Erfahren wir als Kind keine physische oder emotionale Sicherheit, kann es sein, dass wir früh verschiedene Überlebensstrategien entwickeln - natürlich unbewusst. Vielleicht kennst du ein paar davon:
People-pleasing
Masking (maskieren, d.h. sich verstellen aus Angst gesehen zu werden so wie man ist oder beschämt zu werden)
Betäuben (die eigenen Gefühle durch Nagelhautknibbeln, Doom-Scrolling, etc. zu betäuben)
Selbsthass (ein Kind, das nicht vermittelt bekommt, dass es geliebt wird, entwickelt meistens Selbstablehnung oder Selbsthass)
Perfektionismus
Die Unfähigkeit zur Ruhe zu kommen / Overthinking
Schlaf und somit allgemeine innere Ruhe verknüpfte mein Nervensystem nach der Trennung mit Gefahr, denn in der Beziehung hatte ich ständig wachsam sein müssen.
Der erste Schritt in Richtung Ruhe war für mich das Reduzieren der äußeren Unruhe. Anfangs wurde es schlimmer, die innere Unruhe wuchs, meine Gedanken überschlugen sich. Denn lange hatte ich unwissentlich das Tun als Pflaster für unangenehme Gefühle und Glaubenssätze benutzt.
Hier meine Tipps, wie du dein Nervensystem langsam wieder an Ruhe und Langsamkeit gewöhnst.
Erkenne an, dass du auf dem Weg der Heilung noch öfter Unruhe verspüren wirst. Nehme die Gefühle mitfühlend anstatt dich zu verurteilen. Nicht nur traumatisierte Menschen haben Mühe mit Langeweile und Ruhe, da wir in einer Welt voller Schnelligkeit und Handy-Sucht leben.
Scanne deine Umgebung, wenn du alleine und sicher bist, mit deinen Augen ab und vermittle so über die Augen deinem Nervensystem Sicherheit. Schaue dabei nach oben, links und rechts über die Schulter und nach unten. Mache dies für circa eine Minute oder bis du einen Unterschied spürst. Der Unterschied kann minimal sein. Je häufiger du dies übst, desto schneller wird dein NS merken, dass es sicher ist und du wirst z.B. gähnen.
Praktiziere Sport, der dein Nervensystem beruhigt. Keinen extremer Sport wie Kampfsport, da dein Nervensystem noch nicht unterscheiden kann zwischen Realität und Spiel/Sport. Insbesondere Frauen, die physische Gewalt erlebt haben, brauchen erst Stabilität, die oft über Monate oder Jahre aufgebaut werden muss. Ich musste nach einem Jahr Kampfsport mein Nervensystem erneut regulieren, weil es sich zurückversetzt fühlte in die Beziehung und sich in meinem Kopf Horrorszenarien abspielten, in denen ich mich verteidigen musste. Yin Yoga, Yoga Nidra, Qigong, Krafttraining, Joggen, etc. können helfen.
Schaue auf alle Bereiche deines Lebens und überprüfe, wie viel Ruhe oder Stress in ihnen stecken. Bist du in deinem Beruf häufig unterwegs oder ständig unter Druck? Gibt es die Möglichkeit, in ein anderes Team zu wechseln oder dein Pensum zu reduzieren? Hast du Freundinnen und Freunde, die viel feiern gehen und trinken oder die dich nicht verstehen und nicht zu 100% auf deiner Seite stehen? Wie viele Reibereien gibt es in deiner Familie? Wo kannst du Unruhe und Stress reduzieren? Das muss nicht von heute auf morgen geschehen, aber oft hilft schon die Realisation, dass ein Bereich zu viel von einem abverlangt, um peu à peu etwas zu verändern und anders mit dem Druck umzugehen.
Mir persönlich hat EFT geholfen. Allerdings habe ich es erst 7.5 Jahre nach der Trennung so richtig entdeckt. Es gibt unzählige Studien, die belegen, dass EFT, wenn es richtig praktiziert wird, die Symptome von K-PTBS deutlich reduzieren kann.² Schon eine Runde EFT reduziert den Cortisol-Spiegel. Es gibt viele kostenlose Videos auf YouTube, für die Behandlung von Trauma empfehle ich allerdings die Begleitung durch eine Fachperson, die EFT gelernt hat und die auf deine spezifischen Erlebnisse eingehen kann. Das Schöne an EFT ist, dass wir nicht kognitiv verstehen müssen, wie es funktioniert. Es funktioniert trotzdem und kann bei allen möglichen Herausforderungen sowie körperlichen Symptomen helfen.
Körperorientierte Therapie. Gesprächstherapie hilft beim Erkennen von Überlebensstrategien, Mustern, Traumata, aber sie heilt sie nicht. Oft werden sich Patientinnen ihrer eigenen Geschichte bewusst, die Symptome bleiben aber unverändert. Denn Trauma sitzt im Körper und oft hindert uns unser Verstand daran, Traumata kognitiv zu verarbeiten, weil der Verstand uns blockieren kann und Angst hat vor dem Hochkommen des Geschehenen. Hier kann es helfen Praktiken wie Somatic Experiencing, EFT, Neural Somatic Integration, Shiatsu, Craniosacral Therapie, Eye Movement and Desensitization and Reprocessing (EMDR), etc. auszuprobieren. Nicht jede Therapieform wird die richtige für dich sein, genauso wie nicht jede Fachperson die richtige für dich sein wird. Höre auf deinen Körper und wechsle einen Therapieplatz, wenn du spürst, dass sich nichts ändert, die Person dich nicht versteht oder du ein komisches Gefühl hast.
Innere Unruhe und die Unfähigkeit zu schlafen sind Überlebensmuster und Überbleibsel aus der Beziehung. Der Schlüssel ist, dies nicht nur zu verstehen, sondern deinem individuellen Nervensystem mit Vorsicht, Sanftheit und Mitgefühl zu begegnen.
Implementiere sanfte Praktiken in deinen Alltag und erkunde, wie viel Langsamkeit und Momente des Innehaltens du aushalten kannst, ohne dich überfordert zu fühlen. Nimm Kontakt zu deinem Körper auf, indem du die Füße auf dem Boden spürst, dich ab und an mal schüttelst (das geht auch gut auf der Toilette auf der Arbeit), deine Hände reibst, die Schultern vor und zurück rollst.
Gib dir Zeit für das Erkunden von Langsamkeit und das Etablieren von Langsamkeit in deinen Alltag. Und schenke dir Selbstmitgefühl, wenn du wieder in alte Muster verfällst. Das ist normal. Das Bewusstsein wird dir helfen, dich immer wieder zu “erwischen” und immer häufiger umzuschalten oder dich noch vorher zu ertappen.
Deine Natascha
Foto von Roman Melnychuk

Kommentare