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In 6 Schritten: Langsamkeit und Ruhe aushalten lernen als Schlüssel für deine sanfte Traumaheilung.

2019 war mein Arbeitshandy voll von Flugpässen. Ich war kaum Zuhause und zog im Februar  zwischen zwei Geschäftsreisen um, organisierte am Flughafen London Heathrow per Telefon das Umzugsunternehmen. Alles musste schnell gehen, ich war ständig gestresst. Langsamkeit, Langeweile und Stille gab es in meinem Leben nicht. 


In London musste ich von einem Termin zum nächsten, per Tube, Bus oder Uber. Quer durch die Stadt. Ich habe es eine Zeit lang geliebt; habe es geliebt, erzählen zu können, dass ich wieder nach London, Dublin, Edinburgh reisen musste. Doch mit der Zeit war die Aufregung des Neuen verflogen. 


Die Betten der nicht so tollen Hotels waren ungemütlich, die Türen dünn, meine Beine müde. Partys lösten in mir nicht mehr Begeisterung, sondern Müdigkeit und mitunter sogar Angst aus. Immer mal wieder fand ich auf diesen Reisen einen Moment, in dem ich zur Buchhandlung Waterstones konnte, um dort in einem Sessel ein Buch zu lesen und mitzunehmen. Oft der einzige Moment der Ruhe. 


Es war mein Körper, der mich zum Anhalten zwang. Genauso hatte mein Hausarzt es mir damals prophezeit: “Wenn sie nicht aufhören zu arbeiten, werden sie in eine Klinik müssen”. Bis es soweit war, sollte es noch ein paar Jahre dauern. Denn statt mir Zeit für mich zu nehmen und zur Ruhe zu kommen, nachdem ich den Job gekündigt hatte - toxisches Arbeitsumfeld, hohes Arbeitspensum, narzisstische Chefin, etc. - las ich ein Buch nach dem anderen, um mich zu heilen und Neues zu lernen, während ich mich auf Jobs bewarb. 


Ich merkte nicht, dass ich komplett ausgebrannt war und brannte weiter. Plötzlich entwickelte ich ein Interesse für Qigong und glaubte, dass ich TCM oder Qigong studieren wollte, bis das Interesse genauso schnell verblasste, wie es gekommen war. Ich begann mich fürs Coaching zu interessieren und coachte ein paar Frauen für besseren Schlaf und Erholung, obwohl ich selbst meilenweit davon entfernt war, gut zu schlafen und innere Ruhe empfinden zu können. 


Was war es, dass mich so antrieb?


Angst. Pure Angst vor Stillstand, Leere, nicht wichtig sein, Versagen. Ohne mir dessen bewusst zu sein, hatte ich damals ständig an etwas Neuem gearbeitet, mich für etwas Neues interessiert, weil ich Angst davor hatte, nichts in den Händen zu halten, über das ich sagen konnte: “Schaut her, das habe ich geschafft. Das kann ich!” Ich musste leisten, um überleben zu können, so mein altes ungesundes Glaubenssystem. Denn früh hatte ich gelernt, dass ich so wie ich war, nicht liebenswert oder genug war. 


Am Anfang meines ersten Klinikaufenthaltes wurde es noch schlimmer. Mein Kopf wollte nicht stillstehen, im Millisekunden-Takt spuckte es neue Ideen für Content auf Instagram aus, wo ich 2022 einen Account zum Thema Heilung nach narzisstischem Missbrauch aufgebaut hatte. Ich wollte nicht loslassen, hatte Angst, dann mit leeren Händen dazustehen, nichts wert zu sein. 


Es sollte noch Monate dauern, bis ich dieses Überlebensmuster (und das dysregulierte Nervensystem dahinter) beobachten, verstehen, hinterfragen und dann Schritt für Schritt reduzieren und regulieren konnte. Zu einem gewissen gesunden Grad ist dieser Antrieb zu leisten heute noch da, allerdings speist er sich jetzt aus einer kreativen Intuition, einem Wunsch nach positiver Veränderung in dieser Welt, aus dem dann Artikel wie dieser entstehen. 


Ich erkannte 2022, dass meine Kindheit und die fehlende stabile Bindung zu meinen Eltern es gewesen war, die zu diesem Getriebensein geführt hatte. Kelly McDaniel beschreibt in ihrem Buch Mutterhunger, dass eine fehlende stabile Bindung zur Mutter - auch wenn sie physisch anwesend ist und versucht ihr Bestes zu geben - zu einer Getriebenheit, zur Arbeitssucht und Sportsucht führen kann (McDaniel, p. 114). Dann versuchen wir unbewusst die fehlende Stabilität, den fehlenden Schutz und die fehlende warme Liebe durch Restriktion und Kontrolle zu ersetzen. Sucht, so schreibt sie, ist ein Versuch, Angst und Verzweiflung zu regulieren–Angst, nicht liebenswürdig oder allein zu sein, Angst, die wächst ohne ein fundamentales Gefühl an Sicherheit (McDaniel, 114). Sucht und Suche liegen nicht nur sprachlich nah beieinander. 


Mein fehlender Selbstwert und ein dysreguliertes Nervensystem


Aufgrund der Umstände in meiner Kindheit und der Muster und Traumata meiner Eltern lernte ich früh, dass Leistung wichtig war. Ich war ständig auf der Hut, weil ich die Reaktionen meiner Eltern beobachtete und gefallen wollte, weil ich mir nie sicher war, ob ich geliebt wurde. Also lernte ich früh verschiedene Überlebensstrategien zu entwickeln - natürlich unbewusst. Vielleicht kennst du ein paar davon:


  • People-pleasing

  • Masking (maskieren, d.h. sich verstellen aus Angst gesehen zu werden so wie man ist oder beschämt zu werden)

  • Betäuben (die eigenen Gefühle durch Nagelhautknibbeln, Doom-Scrolling, etc. zu betäuben)

  • Selbsthass (ein Kind, das nicht vermittelt bekommt, dass es geliebt wird, entwickelt meistens Selbstablehnung oder Selbsthass)

  • Perfektionismus

  • Die Unfähigkeit zur Ruhe zu kommen / Overthinking


Nach der Trennung vom Narzissten entwickelte ich starke Schlafprobleme, die sieben Jahre andauerten. Mein Geist und Nervensystem empfanden Ruhe und Langsamkeit als gefährlich, ich entwickelte eine regelrechte Schlaf-Anxiety. Sobald ich mein Schlafzimmer betrat, fühlte ich mich unwohl und legte mich nur ungern ins Bett. Erst 5 Jahre nach der Trennung begann ich mithilfe meiner Shiatsu- und NSI-Therapeutin (Neural Somatic Integration) zu verstehen, warum das so war. Auch wenn ich mich nicht daran erinnern konnte, in der Beziehung selbst schlecht geschlafen zu haben, erinnere ich mich daran, wie das lautstarke Spielen aggressiver Computerspiele meines Ex, nur einen Meter vom Bett entfernt, mich wach gehalten hatte. 


Schlaf und somit allgemeine innere Ruhe verknüpfte mein Nervensystem mit Gefahr, denn in der Beziehung hatte ich ständig wachsam sein müssen. 


Der erste Schritt in Richtung Ruhe war für mich das Reduzieren der äußeren Unruhe. Ohne Job und in einer Klinik konnte ich zum ersten Mal spüren, wie es war, nichts leisten zu müssen. Anfangs wurde es schlimmer, die innere Unruhe wuchs, meine Gedanken überschlugen sich. Denn so lange hatte ich unwissentlich das Tun als Pflaster für unangenehme Gefühle und Glaubenssätze benutzt. 


Mit viel Mitgefühl und Co-Regulation (Co-Regulation beschreibt die Reaktion und Regulation eines Nervensystems auf bzw. durch ein anderes) durch meine Shiatsu-Therapeutin lernte ich die Ruhe langsam kennen. Dabei tauchten immer wieder alte Gefühle wie Trauer, Wut, Angst, Ohnmacht, Ekel auf, die sie mir half anzunehmen und dann zu integrieren.


Lange dachte ich, dass Traumaheilung bedeutet, dass ich irgendwann normal und perfekt sein werde. Und auch wenn ich weiß, dass für mich noch mehr Heilung geschehen wird, habe ich nicht mehr den Anspruch, mit Druck, Selbstgeißelung und Perfektionismus zu heilen. Heilung bedeutet das Sehen, Verstehen, Annehmen und Integrieren der verschiedenen Gefühle und Erlebnisse. Ich werde nie wieder so sein wie vor der Beziehung. Und das ist gut so. Das würde bedeuten, dass ich erneut sehr sehr naiv durch die Welt liefe, auf der Suche nach Liebe im Außen, süchtig nach Schnelligkeit und völlig ohne Selbsterkenntnis was meine Traumata und Muster angeht. 


Hier meine Tipps, wie du dein Nervensystem langsam wieder an Ruhe und Langsamkeit gewöhnst. 


  1. Erkenne an, dass du auf dem Weg der Heilung noch öfter Unruhe verspüren wirst. Nehme die Gefühle mitfühlend anstatt dich zu verurteilen. Nicht nur traumatisierte Menschen haben Mühe mit Langeweile und Ruhe, da wir in einer Welt voller Schnelligkeit und Handy-Sucht leben.


  2. Scanne deine Umgebung, wenn du alleine und sicher bist, mit deinen Augen ab und vermittle so über die Augen deinem Nervensystem Sicherheit. Schaue dabei nach oben, links und rechts über die Schulter und nach unten. Mache dies für circa eine Minute oder bis du einen Unterschied spürst. Der Unterschied kann minimal sein. Je häufiger du dies übst, desto schneller wird dein NS merken, dass es sicher ist und du wirst z.B. gähnen. 


  3. Praktiziere Sport, der dein Nervensystem beruhigt. Keinen extremer Sport wie Kampfsport, da dein Nervensystem noch nicht unterscheiden kann zwischen Realität und Spiel/Sport. Insbesondere Frauen, die physische Gewalt erlebt haben, brauchen erst Stabilität, die oft über Monate oder Jahre aufgebaut werden muss. Ich musste nach einem Jahr Kampfsport mein Nervensystem erneut regulieren, weil es sich zurückversetzt fühlte in die Beziehung und sich in meinem Kopf Horrorszenarien abspielten, in denen ich mich verteidigen musste. Yin Yoga, Yoga Nidra, Qigong, Krafttraining, Joggen, etc. können helfen. 


  4. Schaue auf alle Bereiche deines Lebens und überprüfe, wie viel Ruhe oder Stress in ihnen stecken. Bist du in deinem Beruf häufig unterwegs oder ständig unter Druck? Gibt es die Möglichkeit, in ein anderes Team zu wechseln oder dein Pensum zu reduzieren? Hast du Freundinnen und Freunde, die viel feiern gehen und trinken oder die dich nicht verstehen und nicht zu 100% auf deiner Seite stehen? Wie viele Reibereien gibt es in deiner Familie? Wo kannst du Unruhe und Stress reduzieren? Das muss nicht von heute auf morgen geschehen, aber oft hilft schon die Realisation, dass ein Bereich zu viel von einem abverlangt, um peu à peu etwas zu verändern und anders mit dem Druck umzugehen. 


  5. Mir persönlich hat EFT geholfen. Allerdings habe ich es erst 7.5 Jahre nach der Trennung so richtig entdeckt. Es gibt unzählige Studien, die belegen, dass EFT, wenn es richtig praktiziert wird, die Symptome von K-PTBS deutlich reduzieren kann. Schon eine Runde EFT reduziert den Cortisol-Spiegel. Es gibt viele kostenlose Videos auf YouTube, für die Behandlung von Trauma empfehle ich allerdings die Begleitung durch eine Fachperson, die EFT gelernt hat und die auf deine spezifischen Erlebnisse eingehen kann. Das Schöne an EFT ist, dass wir nicht kognitiv verstehen müssen, wie es funktioniert. Es funktioniert trotzdem und kann bei allen möglichen Herausforderungen sowie körperlichen Symptomen helfen.


  6. Körperorientierte Therapie. Wenn ich zurückgehen und meinen Therapieweg neu wählen könnte, würde ich von Anfang an Therapeutinnen wählen, die sich mit Traumata und dem Nervensystem auskennen und den Körper bei der Heilung mit einbeziehen. Gesprächstherapie hilft beim Erkennen von Überlebensstrategien, Mustern, Traumata, aber sie heilt sie nicht. Oft werden sich Patientinnen ihrer eigenen Geschichte bewusst, die Symptome bleiben aber unverändert. Denn Trauma sitzt im Körper und oft hindert uns unser Verstand daran, Emotionales zu verarbeiten, weil der Verstand uns blockieren kann und Angst hat vor dem Hochkommen des Geschehenen. Hier kann es helfen Praktiken wie Somatic Experiencing, EFT, Neural Somatic Integration, Shiatsu, Craniosacral Therapie, Eye Movement and Desensitization and Reprocessing (EMDR), etc. auszuprobieren. Nicht jede Therapieform wird die richtige für dich sein, genauso wie nicht jede Fachperson die richtige für dich sein wird. Höre auf deinen Körper und wechsle einen Therapieplatz, wenn du spürst, dass sich nichts ändert, die Person dich nicht versteht oder du ein komisches Gefühl hast. Ein Therapeut ist dafür verantwortlich, dir das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit zu vermitteln. Sätze wie “Ich spüre, dass sie blockieren” oder “Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich nicht öffnen” sind klare Zeichen dafür, dass es nicht passt und die Therapeutin es nicht schafft, deinem einzigartigen Nervensystem ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. 



Innere Unruhe und die Unfähigkeit zu schlafen sind Überlebensmuster und Überbleibsel aus der Beziehung. Der Schlüssel ist, dies nicht nur zu verstehen, sondern deinem individuellen Nervensystem mit Vorsicht, Sanftheit und Mitgefühl zu begegnen. 


Implementiere sanfte Praktiken in deinen Alltag und erkunde, wie viel Langsamkeit und Momente des Innehaltens du aushalten kannst, ohne dich überfordert zu fühlen. Nimm Kontakt zu deinem Körper auf, indem du die Füße auf dem Boden spürst, dich ab und an mal schüttelst (das geht auch gut auf der Toilette auf der Arbeit), deine Hände reibst, die Schultern vor und zurück rollst. 


Gib dir Zeit für das Erkunden von Langsamkeit und das Etablieren von Langsamkeit in deinen Alltag. Und schenke dir Selbstmitgefühl, wenn du wieder in alte Muster verfällst. Das ist normal. Das Bewusstsein wird dir helfen, dich immer wieder zu “erwischen” und immer häufiger umzuschalten oder dich noch vorher zu ertappen. 


Deine Natascha


Foto von Roman Melnychuk


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